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Dethematisierung und Framing der Steuern im Wirtschaftsunterricht

Sofern sie nach dem gymnasialen Bildungsplan Baden-Württemberg unterrichtet werden, kommen Schüler*innen im Leistungskurs Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren und somit ca. 350 Stunden kein einziges Mal mit dem Thema Steuern in Berührung.  

  

Warum? Weil der Begriff „Steuern“ im gesamten Bildungsplan nur einmal am Rande des marginalen und nicht abitur-relevanten Kapitels „Internationale Finanzmärkte“ vorkommt, und zwar in Form der – leider – unbedeutenden Finanztransaktionssteuer.

 

Ansonsten nichts, nada, rien, niente, null, nil, nix und wieder nichts!

 

Diese Abwesenheit gilt auch für die Begriffe Einkommensungleichheit, Vermögensungleichheit, ökonomische Teilhabe, Umverteilung, Transferzahlungen, öffentliches Güterangebot, Kinderfreibetrag, Spitzensteuersatz, Durchschnittssteuersatz, Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, Vermögensabgabe, Einkommenssteuer…

 

All diese Begriffe kommen im Bildungsplan Gemeinschaftskunde für den Leistungskurs in der Kursstufe vor (Link). Das Problem bei der Sache ist aber: Schüler*innen, die einen Wirtschaftsleistungskurs belegen, haben keinen Leistungskurs Gemeinschaftskunde. Sie durchlaufen also die gesamte Jahrgangs- bzw. Kursstufe ohne das geringste über unser Steuersystem zu lernen!

 

Diese Lücke besteht aber bereits in den drei Jahren davor, in denen die Schüler*innen im Fach WBS (Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung) unterrichtet werden. Auch hier kommt das Thema Steuern im Bildungsplan nicht vor. In diesen ca. 130 WBS-Unterrichtsstunden erfahren die Schüler*innen ebenfalls nichts, nada, rien über das Thema Steuern!

 

 

/ In insgesamt etwa 480 Unterrichtsstunden lernen die Schüler*innen trotz – oder besser gesagt wegen (!) – des Leistungskurses Wirtschaft nichts über Steuern /

 

 

Und wie sieht es im Schulbuch „Wirtschaft für die Sekundarstufe II“ aus, welches in Baden-Württemberg eine Monopolstellung für den Leistungskurs Wirtschaft genießt? Auch hier kommt das Steuersystem nicht vor. Selbst im Kapitel zur Sozialen Marktwirtschaft gibt es ein Unterkapitel zum Thema Wettbewerb aber nichts zum Thema Steuern 

 

Das Thema Steuern als Opfer des neoliberalen Kampfes gegen den Staat

Diese Lücke ist sicherlich auch vor dem Hintergrund der neoliberalen Markt-gegen-Staat-Ideologie zu deuten, welche auf reifizierende, ökonomistische und unterkomplexe weil ahistorische, „asoziologische“ und apolitische Vorstellungen von „Markt“ und „Staat“ basiert (by the way: dies gilt ebenfalls für den neoliberalen Freiheitsbegriff). Das Problem ist allerdings, dass diese neoliberale Trivialideologie eine Wirkmächtigkeit entfaltet, die sich zunehmend auf die Bildungspläne und die Unterrichtsinhalte auswirkt.

 

Dies zeigt sich auch in Baden-Württemberg. Während der Bildungsplan von 2004 noch nach Sektoren strukturiert war und den Staat umfasste (Sektor Staat) (Link), so sind im Bildungsplan von 2016 die „Standards für inhaltsbezogene Kompetenzen“ (Kap. 3) nach der Realfiktion des Marktes strukturiert und schließen somit den Staat – und daher das Thema Steuern – aus der Wirtschaft aus. Der Staat wird nicht mehr Teil der Wirtschaft betrachtet, sondern lediglich als ein externer – regulierender oder meist störender – Faktor. Ein weiteres besorgniserregendes Beispiel für den ökonomistischen Imperialismus im Bildungsbereich und ein weiterer Beleg für die dringende Notwendigkeit einer sozioökonomischen Bildung (Engartner & Krisanthan 2013, 2014; Hedtke 2014).

 

Dabei muss aber angemerkt werden, dass das erste Kapitel des Bildungsplans BW („Leitgedanken zum Kompetenzerwerb“) eigentlich eine gute Grundlage für eine sozioökonomische Bildung bietet. So wird beispielsweise betont:

 

„Dabei gilt es, Gestaltungsspielräume zu analysieren sowie entscheidungsfreudig zu nutzen beziehungsweise zu erweitern. Unterrichtspraktisch erfordert dies die Abbildung grundlegender wirtschaftspolitischer Kontroversen. Ein solchermaßen dem Prinzip der Pluralität verpflichteter Wirtschaftsunterricht ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, ökonomische Entscheidungen vor dem Hintergrund wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Konzepte einzuordnen und ihre möglichen Wirkungen sowohl unter ökonomischen Aspekten als auch mithilfe gesellschaftlicher Wertmaßstäben zu beurteilen beziehungsweise zu gestalten. Dadurch wird das Denken in Alternativen geschult sowie das Bewusstsein für die Bedeutung dafür geschärft, wie die ökonomische Ordnung gestaltet wird.“

(BP BW, S. 7, e. H.d.V.).

  

Leider erfolgt die konkrete Unterrichtsplanung auf Grundlage von Kapitel 3 und nicht von Kapitel 1 des Bildungsplans… 

 

Lobbyismus, Framing und Dethematisierung des Steuersystems

Angesichts ihres doch recht weitreichenden Einflusses drängt sich die Frage auf, welche Rolle neoliberale Lobbyarbeit bei der Entstehung dieser Leerstelle spielt. Dieser Lobbyismus muss nicht in Form einer aktiven Beeinflussung der Bildungspläne erfolgen, sondern wirkt bereits durch die Gestaltung von Diskursen (De-Thematisierung) und durch das gezielte Framing bestimmter Themen (Beyer 2018).

 

So ist sicherlich davon auszugehen, dass…

 

- die zahlreichen Auftragsstudien (s. Hellmich & Hedtke 2023; hier ein Negativbeispiel),

 

- die privatwirtschaftlich gesponsorten Bildungskongresse, Lehrer*innentagungen und -fortbildungen (bspw. die Wirtschaftslehrer:innentage der Joachim Herz-Stiftung, die BÖB Kongresse, das Lehrkräfte-erleben-Wirtschaft-Programm der Dieter von Holtzbrinck-Stiftung und das  Unternehmenspraktika-Programm von SchuleWirtschaft),

 

- die unzähligen Lehrmaterialien von Unternehmen und Stiftungen (s. Engartner 2019),

 

- die zahlreichen privatwirtschaftlichen Schülerwettbewerbe (bspw. econo=me, Bankenverband, Joachim Herz-Stiftung, Wirtschaftsjunioren)

 

- die diversen Programme für Unternehmen-Schul-Kooperationen (bspw. SchuleWirtschaftBW, IHK),

 

- die privatwirtschaftlich finanzierte wirtschaftsdidaktische „Forschung“ (Drittmittel) und Professuren (bspw. Stiftungsprofessur Tübingen)

 

… auf den diskursiven Kontext wirken, in dem Bildungspläne und Schulbücher erarbeitet werden ("deep lobbying").

 

Hier werden  Millionen in das Erringen einer neuen diskursiven Hegemonie und eines neuen gesellschaftlichen Konsenses investiert. Wer das Denken prägt, prägt den politischen Diskurs. Wer Staat und Steuern zurückdrängen möchte, muss dies auch im Unterricht tun… 

 

Lobbyismus und Dethematisierung der Steuern im Bildungsplan

In seinem Artikel "WBS: Ein Schulfach über Wirtschaft oder für die Wirtschaft?" erläutert Dr. Lindeboom strittige Punkte der Bildungsplanreform 2016 in Baden-Württemberg (Link). Dabei zeichnet er unter anderem eindrücklich nach...

 

- wie die Bildungsplanreform ohne belastbare Daten über die ökonomischen Kenntnissen der gymnasialen Schüler*innen durchgeführt wurde,

 

- wie diese Daten erst nachträglich erhoben wurden, finanziert von der Würth-Stiftung (!),

 

- wie der Anhörungsprozess für die Bildungsplanform einseitig die Interessen und Vorschläge der Wirtschaft berücksichtigte,

 

- wie die Dieter von Holtzbrinck-Stiftung die Bildungsplanreform tiefgreifend beeinflusste,

 

- wie Interessenskonflikte vertuscht wurden. So war beispielswiese Frau Prof. Suzan Bacher zwischen 2012 und 2014 sowohl Direktorin des Landesinstituts für Schulentwicklung als auch Mitglied im Beirat der Holtzbrinck-Stiftungsinitiative "Wirtschaft Verstehen Lernen".

 

Zum Thema Steuern stellt Dr. Lindeboom zur Bildungsplanreform 2016 fest: "Interessant auch, welche Teilkompetenzen noch in der gymnasialen Entwurfsfassung 2014 standen, aber schon in der Anhörungsfassung 2015 fehlen: [u.a.] »…am Beispiel Vermögen beurteilen, inwieweit Steuern Wohlstand umverteilen sollen«. (Link ; Herv. d. Verf.).

 

Neoliberale Ideologie dockt an Alltagsvorstellungen der Schüler*innen an

Diese Entwicklung ist auch deshalb besonders wirkmächtig, weil die neoliberalen Diskurse häufig an bereits bestehende Alltagsvorstellungen der Schüler*innen anknüpfen bzw. auch diese bereits nachhaltig prägen. Meine Unterrichtserfahrung zeigt, dass Schüler*innen häufig unterkomplexe und negative Alltagstheorien zum Thema Steuern haben: der Staat schöpft die Produktivität der Leistungsträger*innen ab, um Leistungsverweigerer*innen zu unterstützen oder sinnlose Projekte zu realisieren und schwächt somit die Leistungsträger*innen und die Gesamtwirtschaft.

 

Mit Bezug auf die Entwicklungsstufen der Urteilsfähigkeit von Kohlberg, kann dies sicherlich zunächst als ein altersgerechtes Urteil gedeutet werden. Nach Kohlbergs Stufenmodell erfolgt mit zunehmender Reife eine Entwicklung der Urteilsfähigkeit vom Konkreten, Individuellen und Unreflektiertem hin zum Abstrakten, Gesellschaftlichen und Reflektierten. Ziel einer ökonomischen Bildung müsste es sein, einen Prozess zu gestalten, der es Lernenden ermöglicht, Steuern nicht mehr als fragwürdige gesellschaftliche Pflicht (Kohlbergsche Stufe 4), sondern als Sozialvertrag (Stufe 5) zu begreifen und beurteilen.  

 

Neoliberale Ideologie schränkt die Entwicklung der Urteilsfähigkeit ein

Das Problem ist allerdings, dass die Schüler*innen im Alltag vielfach neoliberalen bis libertären Diskursen ausgesetzt sind. Diese reichen von F-/Influencern (Elon Musk, Andrew Tate, Hoss und Hopf etc.) und politischen social media Kanälen (AfD, FDP), über (scripted) reality shows (Familie Ritter, Hartz und herzlich etc.), Castingshows (Deutschland sucht den Superstar, Germany’s Next Topmodell etc.) und der Ratgeberliteratur zu Leben und Finanzen bis hin zur Schule (unzählige Schülerwettbewerbe, entrepreneurship education  etc.) (vgl. Blume 2024, Schreiner 2020).

 

Die Botschaft ist immer die gleiche: Du bist verantwortlich für Deinen Erfolg und für Dein Scheitern; erwarte nichts von Staat, denn der Staat schwächt nur die Erfolgreichen und lähmt die Erfolglosen.

 

Angesichts der Tatsache, dass dieser hegemoniale neoliberal-libertäre Diskurs die Schüler*innen auf der vierten Kohlbergsche Stufe verharren lässt, ist es absolut notwendig, dass die Schule eine Entwicklung auf die fünfte Stufe anbahnt. Auch dies spricht gegen eine monodisziplinär-ökonomistische und für eine sozioökonomische Bildung. 

 

Bildungsplan widerspricht teilweise dem Beutelsbacher Konsens

Während bestimmte Themen dethematisiert werden, werden andere Themen offensiv thematisiert. Im Leistungskurs Wirtschaft erfahren die Schüler*innen nichts über das Steuersystem, aber dafür lernen sie ausführlich die betriebswirtschaftlichen Grundlagen, von der Berechnung von GuV-Rechnungen, Elastizitäten, Eigenkapitalquoten, Deckungsbeiträgen sowie Break-Even-Punkten über die Entwicklung von Wachstums- sowie Wettbewerbsstrategie bis hin zur Bewertung von Liquidität, Rentabilität sowie von Finanzierungsmöglichkeiten von Unternehmen (Dr. Lindeboom belegt übrigens ebenfalls, wie diese Kompetenzen unter der Einflussnahme der Holtzbrinck-Stiftung in den Bildungsplan gekommen sind; Link).

 

Dies widerspricht allerdings dem Beutelsbacher Prinzip der Schülerorientierung. Denn während die wenigsten Unternehmer*innen oder Finanzbuchhalter*innen werden, so werden doch alle Schüler*innen zu Steuerzahler*innen, bzw. sind es bereits.

 

Leider entlässt der Bildungsplan die Schüler*innen mit der Kompetenz Wachstumsstrategien für Unternehmen zu entwickeln aber nicht mit der Kompetenz, die Gerechtigkeit eines Steuersystems zu bewerten und dieses System mitzugestalten…  

 

Literatur

  • Beyer, M. 2018: Wirtschaft neu denken. Zum Einfluss der Sprache auf (ökonomisches) Denken anhand von Framing. In: Entwurf Nr. 4 / 2018: 49 (2018) 4, S. 46-51.
  • Blume, B. 2024: Influencer mit radikalen Positionen. Gift für die Jugend (Link)
  • Engartner, T. 2019: Wie DAX-Unternehmen Schule machenLehr- und Lernmaterial als Türöffner für Lobbyismus. Otto-Brenner-Stiftung-Arbeitsheft 100 (Link)
  • Engartner, T. & Krisanthan, B. 2014: Ökonomische Bildung in Zeiten der Ökonomisierung – oder: Welchen Anforderungen muss sozio-ökonomische Bildung genügen? In: Fischer, A. & Zurstrassen, B. 2014: Sozioökonomische Bildung. bpb, Bonn: 155-176.
  • Engartner, T. & Krisanthan, B. 2013: Ökonomische Bildung im sozialwissenschaftlichen Kontext – oder: Aspekte eines Konzepts sozio-ökonomischer Bildung. In: Gesellschaft - Wirtschaft - Politik (GWP), 2: 243-256. (Link)
  • Hedtke, R. 2016: Hätte Ludwig Erhard Kuba gerettet? Heldensagen und Jalbwahrhheiten in der ökonomischen Bildung. In: sowi-online.de (Link)
  • Hedtke, R. 2014: Was ist sozio-ökonomische Bildung? In: In: Fischer, A. & Zurstrassen, B. 2014: Sozioökonomische Bildung. bpb, Bonn: 81-127.
  • Hedtke, R. 2011: Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik (Link)
  • Hellmich, S. H. & Hedtke, R. 2023: Wirtschafts- und Finanzwissen. Beobachtungen zu Wissenstests in der Mediendebatte im deutschsprachigen Raum. = Fakultät für Soziologie, AB 9 Didaktik der Sozialwissenschaften, Working Papers No. 14 (Link)
  • Lindeboom, M. 2019: WBS: Ein Schulfach über Wirtschaft oder für die Wirtschaft? In: Gymnasium Baden-Württemberg, 3-4: 8-9 (Link
  • Schreiner, P. 20206: Unterwerfung als Freiheit. Leben um Neoliberalismus. PapyRossa. (Link)

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